Scheinheilige Institutionen

Missbrauch und Gewalt „verschwinden“ nie

Verbrechen, Gewalt, psychische und physische Misshandlung und Missbrauch kommen immer wieder vor und in jeder gesellschaftlichen und sozialen Institution. Seien sie aufs Aller-dürftigste oder mit höchstem wissenschaftlichen Aufwand und mit besten Vorsätzen entwi-ckelt worden, sie entgehen dem Unheil nicht. Es passiert, was nicht passieren darf. Nur, frag-lich ist stets, wie schnell und zuverlässig Verbrechen, Übergriffe und Mängel bemerkt werden dürfen und ob die Fortsetzung energisch unterbunden wird. Wenn jedoch „nichts gesehen“ und nichts verhindert wird, liegt das oft am Unwillen, eine schwerwiegende Unzulänglichkeit ehrlich aufarbeiten zu wollen; oder, so meine These, es liegt am Vollkommenheitswahn, mit dem sich eine Institution verbindet, und der sich zu anderen Faktoren gesellt wie etwa der elitären Abkapslung vom „Gewöhnlichen“.
Damit, mit dem Nimbus der betroffenen Institutionen, befassen sich die folgenden Zeilen, weniger mit den Tätern und Opfern darin.

Die „vollkommene“ Mutter, die „heile“ Familie, „begnadete“ Forscher und PädagogInnen, „charismatische“ Glaubensgemeinschaften, die „ideale“ Schule, der „weltberühmte“ Chor, das „glorreiche“ Armeekorps – sie sind gerade wegen ihrer behaupteten Makellosigkeit und Vollkommenheit dazu verurteilt, unpassende „Un-Fälle“ zu übersehen, totzuschweigen oder wenigstens zu bagatellisieren. Denn nur dann, wenn Fehlbarkeit, Unvollkommenheit, Lächer-lichkeit oder Irrtümer verleugnet werden, lässt sich der Anschein von Unfehlbarkeit und Voll-kommenheit aufrechterhalten, nur dann können diese Institutionen scheinbar das sein, was sie vorgeben zu sein: ideal. Dabei kommen der Blindheit und der Verleugnung die oft vorhande-nen Machtstrukturen zu Hilfe. Der Schutz der geliebten Einrichtung steht über dem Leid der einzelnen Geschädigten – oft in verschwommener Solidarität mit der Einrichtung – bei Tätern, Mitwissern und Opfern. Missgriffe und Missbräuche dürfen nicht wahr sein und können folglich auch nicht abgestellt werden. Damit steht das erhabene Selbstbild der „besonderen“ Einrichtungen oder „besonderen“ Persönlichkeiten auf derselben Stufe mit den allzu unvoll-kommenen Institutionen, die ihr Versagen und ihre Inkompetenz ständig verschleiern müssen: Nichts darf nach außen dringen!

Wie weise nimmt sich dagegen das Forschungsergebnis des Familienpsychologen D.W. Win-nicott aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts aus: Er spricht von der „hinreichend guten Mutter“, die ein Kind zu seiner Entwicklung notwendig brauche. Dieser Hinweis lässt sich auf weitere soziale Institutionen (oder Personen) übertragen, auf die „hinreichend“ gute Familie und das „hinreichend“ gute Schulkollegium, auf die „hinreichend“ fromme Gemeinde und so weiter. Bei hinreichend guten Einrichtungen wird nicht um Vollkommenheit und um den Hei-ligenschein gerungen, sondern darum, ob Güte, Glaube, Kompetenz, Freiheit von Mängeln usw. tatsächlich „hinreichen“ bei der Verfolgung der Aufgaben und Ziele. Ob sie tatsächlich hinreichen, darüber kann und muss man reden und gegebenenfalls aus Defiziten und „Fällen“ Konsequenzen ziehen. Der eine darf mit guten Gründen Zweifel und Kritik anmelden, weil ja kein Denkmal vom Sockel zu stoßen ist, eine andere wird mit guten Gründen das Positive hervorheben ohne die Gegenposition verdammen zu müssen. Offenheit und Kritikfähigkeit können dann entwickelt und üblicher werden, offenbar gewordene Verfehlungen leichter aus-geräumt werden. Das heißt, dieses „Hinreichend“ ist kein Notbehelf, weil Menschen leider fehlbar sind. Es ist konstitutiv, um die Freiheit der Entfaltung von Menschen und Institutionen zu sichern, um das Notwendige voranzubringen und nicht zu blockieren, wie es die „Vollkommenheit“ tut. – Bedauerlich, dass auch hier wie stets Machtinteressen ins Spiel kommen können. Diskussion und Gedankenfreiheit – ja, entsprechende Änderungen und konkrete Maßnahmen – nein. Und dann auch hier: Nichts darf nach außen dringen.

Übrigens gilt das Gesagte ebenfalls und gerade für die Kontrollen und Überwachungsmaß-nahmen selbst, die vor Gewalt, Misshandlung oder Missbrauch schützen sollen. Sind die Kon-trollen „vollkommen“ statt „hinreichend“, so werden sie totalitär. Und: je totaler die Überwa-chung, desto raffinierter die Tricks, mit denen sie unterlaufen wird, so dass letztlich Kontrolle und Überwachung nur noch für sich selbst und die Betreiber da sind.

Was tun? Je eher oder je mehr eine der betroffenen Einrichtungen die notwendige strukturelle Offenheit und Fähigkeit zur Kritik und Selbstkritik erreicht und die elitäre Abkapslung als einer unberührbar-selbstgenügsamen ingroup durchbricht, desto mehr darf man ihr trauen. Vor allem darf eine Vertrauen weckende Person – in der Institution oder außerhalb – nicht fehlen als verlässliche Verbündete für mögliche Opfer. Heiligenschein und „Denkmalschutz“ könnten sich damit vielleicht von selbst erledigen, denn mögliche Fehlbarkeit ist damit zugestanden; die fortlaufenden Anstrengungen gelten dem „Hinreichenden“, das so bitter notwendig ist.
• Schön und gut wäre, wenn diese Bemühung um „hinreichende“ Zustände nicht in selbstquälerischer Unsicherheit abliefen, vielmehr sich mit Freude am einzelnen Ge-lingen vollzögen.
• Schlecht wäre, wenn das „Nur“-Hinreichende funktionalisiert würde als Entschuldi-gung für Faulheit, Bequemlichkeit und Fehlentscheidungen.

26. 3. 2015

Erste Fassung in: Hessische Lehrer- und Lehrerinnenzeitung, 63(2010)Heft 5